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Vorsicht Falle? Falsche Erinnerungen in Autobiographien

Erinnerungen Autobiographie

Gibt es falsche Erinnerungen in Autobiographien? Klar gibt es die. Ich meine damit nicht das bewusste Schönfärben oder Umdichten von Erlebnissen. Sondern die Begebenheiten, von denen Sie überzeugt sind, dass sie genauso stattgefunden haben. Dennoch müssen Sie keine Angst haben, dass Lebensgeschichten Lügengeschichten sind.

Falsche Erinnerungen können sich überall in Ihrem Gedächtnis einnisten.

Falsche Erinnerungen, die sich enttarnen lassen

Bei Daten wie Jahreszahlen zum Beispiel. Mir ist neulich aufgefallen, dass ich das Ende meiner Grundschulzeit ein Jahr früher in Erinnerung hatte, als es tatsächlich war. Oder vielleicht sind Sie sich absolut sicher, beim ersten Treffen mit Ihrem heutigen Ehemann ein blaues Kleid getragen zu haben. Wenn Sie sich dann das Foto anschauen, dass damals entstanden ist, war es in Wirklichkeit rot.

Auch bei Örtlichkeiten können Sie falsch liegen. Sollten Sie bereits ein paar Jahrzehnte auf der Welt unterwegs sein, erinnern Sie sich bestimmt noch an Telefonzellen. Ich hatte als junges Mädchen einmal im Kopf, dass so ein gelbes Teil an einer Straßenecke bei der Schule stand. Tja, als ich dringend telefonieren musste, stellte ich fest, dass dem nicht so war… Peinlich.

Und weil das mir so unangenehm war, erinnere ich mich noch genau daran. Erlebnisse, die mit Gefühlen verbunden sind, bleiben nämlich besser in unserem Gehirn haften. Je größer das Gefühl, desto besser. An Ihren ersten Autounfall erinnern Sie sich bestimmt noch. Die Millionen Male, bei denen nichts passiert ist – alle weg.

Eine falsche Jahreszahl. Ein falsches Kleid. Eine falsche Telefonzelle. Das sind kleine falsche Erinnerungen. Harmlos. Sie ändern nichts an der Lebensgeschichte. Wichtiger sind die Erlebnisse in der Grundschule. Der Ablauf des ersten Treffens mit dem Liebsten. Und ob die Episode mit der Telefonzelle einen Absatz in meiner Autobiographie wert wäre, das bezweifle ich. Sie eignet sich höchstens als Anekdote in einem Gespräch oder einem Artikel über Erinnerungen.

Solche falschen Erinnerungen lassen sich überdies durch eine gründliche Recherche oftmals enttarnen. Für Daten gibt es Dokumente. Für wichtige Anlässe Fotos. Für Örtlichkeiten die Möglichkeit hinzufahren.

Zwei Menschen – zwei Erinnerungen

Sie können natürlich ebenfalls mit Menschen über Ereignisse sprechen, an denen sie beteiligt waren. Das ist einerseits wichtig. Es hilft Ihnen, die eigenen Erinnerungen aufzufrischen. Aber Vorsicht: Hier wird der Boden der Tatsachen andererseits wieder schwammig. Vielleicht erinnert sich der andere falsch.

Als ich mich mit einer guten Freundin über ihr Berufsleben unterhielt, kamen wir auf einen Vorfall zu sprechen, der gut zehn Jahre zurückliegt.

Sie hatte damals eine miese Festanstellung gekündigt, um im Außendienst durchzustarten. Das war schon immer ihr Traum gewesen. Mit Feuereifer legte sie los. Nach etwa einem halben Jahr rief sie ihr Hauptkunde in die Zentrale – 250 Kilometer entfernt.

Meine Freundin erzählte, wie sie damals in die Zentrale gefahren war, um sich von dem Kunden zu trennen. So wie das nächste Projekt ablaufen sollte, das passte ihr überhaupt nicht. Da würde zu wenig Geld reinkommen.

Ich dagegen erinnerte mich noch genau, dass sie in die Zentrale zitiert worden war, um sie rauszuwerfen. Weil sie angeblich zu wenig Umsatz machte.

Als ich sie darauf aufmerksam machte, wehrte sie sich vehement gegen meine Version. So wie sie sich erinnerte, war es abgelaufen. Und nicht anders! Sie war wirklich und ehrlich überzeugt von ihrer Erinnerung. Einig waren wir uns erst wieder beim Ende der Geschichte: Sie kehrte zu seinem alten Arbeitgeber zurück.

Falsche Erinnerungen als Ich-Stütze

Wer von uns beiden erinnerte sich richtig, wer falsch?

Ich mag und schätze meine Freundin sehr. Ich weiß noch genau, wie ich damals mit ihr fühlte, als sie mir anrief, um mir von dem Rauswurf zu berichten. Wie ich sie tröstete. Wie ich versuchte, sie aufzubauen.

Ich hatte weiter ober gesagt, dass Erlebnisse, die mit Emotionen verknüpft sind, besser im Gedächtnis hängen bleiben. Aber: Wenn uns eine Erinnerung zu sehr schmerzt, dann kann sie auch verdrängt oder eben verändert werden.

Der Rauswurf meiner Freundin machte mich zwar betroffen – aber ich war nicht persönlich betroffen. Sie dagegen war damals bereits seit einigen Jahren beruflich und privat gebeutelt worden. Das Platzen Ihres Traums war dann vermutlich das Zuviel, das irgendwann im Laufe der Zeit zu dieser neuen Version geführt hat. Eine Version, in der sie die Zügel ihres Lebens in den Händen hatte. Unbewusst entstanden und nicht bewusst erfunden.

Wie das Gedächtnis funktioniert

Unser Gedächtnis ist eben kein Computerspeicher, von wir immer genau die Informationen abrufen können, die sich darin befinden. Das funktioniert bei allgemeinen Fakten. Die Hauptstadt der USA – Washington. Die Telefonnummer Ihrer Mutter – kein Problem. Aber welche Fakten Sie sich gut und welche schlecht merken können, selbst das ist bis zu einem gewissen Grad durch Ihre Persönlichkeit gefärbt. Ein politisch interessierter Mensch kann alle Bundespräsidenten runter rasseln. Ich habe spontan nur den aktuellen und seinen Vorgänger parat. Dafür kann ich Ihnen auf Anhieb alle Bücher meiner Lieblingsautoren nennen.

Was die Erinnerungen an Ihre Lebensgeschichte betrifft:

„Sie sind nicht wie eine Videoaufnahme, die wir nach Belieben zurückspulen können. Erinnerungen sind vielmehr flüchtiger und wandeln unentwegt ihre Gestalt und Bedeutung (…) In der Tat hat die neuere Forschung überdeutlich gezeigt, dass das Erinnern ein Rekonstruktionsvorgang ist, bei dem fortwährend Informationen neu ausgewählt, gelöscht, umsortiert und aktualisiert werden – all das im Dienste des ständigen Anpassungsprozesses, den Leben und Überleben bedeuten.“

Peter A. Levine (US-amerikanischer Biophysiker und Psychologe), „Trauma und Gedächtnis“

Falsche Erinnerungen, die eingepflanzt werden

In den bisherigen Beispielen kam das Um-Erinnern von innen. Es kann jedoch auch von außen kommen. Falsche Erinnerungen können Ihnen eingepflanzt werden.

Das muss nicht in böser Absicht geschehen, kann aber dennoch dramatische Folgen haben. Wie etwa in Fällen, in denen ein Therapeut einen Missbrauch in der Kindheit seines Patienten vermutete – obwohl dem nicht so war.  

Falsche Erinnerungen gehören zum Leben

Was bedeutet all das nun für Sie, wenn Sie Ihre Autobiographie schreiben wollen?

Vielleicht denken Sie: Sollte ich es besser bleiben lassen, wenn auf mein Gedächtnis eh kein Verlass ist? Auf keinen Fall!

Wenn Sie gründlich recherchieren (und das sollten Sie tun), werden Sie die eine oder andere falsche Erinnerung entdecken. Aber vielleicht nicht alle.

Ist das schlimm?

Falsche Erinnerungen sind etwas zutiefst Menschliches. Nicht die eingepflanzten, sondern diejenigen, die in Ihnen von alleine gewachsen sein mögen. Wichtig ist, dass Sie nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen. Dass sich Ihre Geschichte für Sie stimmig anfühlt. Sie schreiben schließlich nicht an einer wissenschaftlichen Abhandlung über eine Epoche. Sie schreiben über sich. Über Ihr Leben. So wahrhaftig, wie es Ihre Erinnerung zulässt.

Klick-Tipp

Wenn Sie noch mehr über falsche Erinnerungen erfahren wollen:

seminar_loftus.pdf (fu-berlin.de)

Hier werden Ihnen spannende und verblüffende Einblicke gegeben, wie sich Erinnerungen verändern lassen und wie beeinflussbar wir eigentlich sind.

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