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Leben auf ein paar Seiten – die Kurzbiographie

Autobiographie Kurzbiographie

Ein Leben ist lang. Prall gefüllt mit Erlebnissen. Voller Licht und Schatten. Ein Leben braucht Platz. Den Raum, sich zu entwickeln. Seite um Seite füllt es das Papier, bis ein ganzes Buch daraus entstanden ist – die fertige Autobiographie. Doch es geht auch kürzer. Ein Leben verdichtet auf wenige Seiten. Das ist die Kurzbiographie.

Kurz zu schreiben kann anspruchsvoller sein als lang zu schreiben. All die Jahre müssen auf das Wesentliche reduziert werden. Dennoch soll der Mensch fass- und fühlbar sein. Wenn Sie sich an dieses Vorhaben wagen, nehmen Sie am besten ein Thema als roten Faden. Meistens ergibt sich das schon aus dem Anlass, für den Sie die Kurzbiographie schreiben wollen.

Hier ein paar Beispiel:

  • Vielleicht waren Sie an einem Projekt beteiligt und sollen sich vorstellen?
  • Oder Sie sind Politiker und befassen sich in einem Buch mit gesellschaftlichen Problemen und möglichen Lösungen?
  • Sie wollen für eine Chronik die Lebensgeschichten jedes einzelnen Familienmitglieds zusammentragen?
  • Vielleicht sind Sie aber auch Künstler und geben einen Band mit ihren besten Werken heraus?

Ich habe für den letzten Anlass eine fiktive Kurzbiographie geschrieben. Damit Sie ein Gespür dafür kriegen, wie eine kurze Lebensgeschichte aussehen kann.

Der Verfasser in meinem Beispiel ist ein Fotograf, der einen Bildband mit seinen besten Aufnahmen herausgibt. Gezeigt wird das schwule Leben in Hamburg Anfang der 80er-Jahre. Im Vorwort erzählt der Verfasser von seinem steinigen Weg zum bekennenden Homosexuellen. Das Ganze ist, wie ich noch mal betonten will, eine rein fiktive Geschichte. Dennoch könnte sie genauso passiert sein.

Lass uns schwul sein!

Ein Bildband von Norbert M.

Vorwort

Bei uns auf dem Dorf, da gab es nur einen Schwulen und der war verrückt. „Die Schwulen sind krank“, sagten die Leute. Und Pfarrer Antonius gab seinen Segen dazu. Manch einer nannte sie auch entartet. Aber nur hinter vorgehaltener Hand oder am Stammtisch zu später Stunde, wenn die Köpfe rot vom Bier glühten. Keiner hatte etwas mit dem Dritten Reich am Hut gehabt. Gott behüte! Schlimm war das gewesen, was die Nazis getrieben hatten. Froh waren alle gewesen, als der Krieg vorbei gewesen war und die Männer, wenn auch nicht alle, heimgekehrt waren.

Als Kind bekam ich von all dem nichts mit. Ich spielte mit den Jungs Fußball auf der Dorfwiese und Cowboy und Indianer im Wald und Mädchen waren doof. Das Wirtschaftswunder fand den Weg selbst in unser Dorf im Schwarzwald. Sonntags kam immer ein Braten mit fetter Soße auf den Tisch. „Wir hatten im Krieg nicht mal Brot“, sagte mein Opa, der ein halbes Bein auf einem Schlachtfeld gelassen hatte. Dann verlor sich sein Blick in der Ferne und erst wenn Oma ihm über den Arm strich, kam er wieder zurück.

1959, ich war sieben Jahre alt, zogen wir bei den Großeltern aus und in unser eigenes Haus ein. Mein Vater verdiente im Sägewerk genügend Geld, um uns ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen und das hatten wir. Mama war Hausfrau und sang im Kirchenchor. Ich war mit meinen Freunden unterwegs, wenn ich meine Hausaufgaben erledigt hatte und nicht auf meinen drei Jahre jüngeren Bruder Thomas aufpassen musste, was mich natürlich gehörig nervte. Aber Mama musste der Oma, also der Mutter meines Vaters, öfters mit den Tieren und bei der Arbeit auf dem Feld helfen, weil der Opa durch seine Kriegsverletzung eben nicht mehr so konnte.

Als die Stimmen von mir und meinen Freunden tiefer wurde, fanden die anderen Mädchen auf einmal nicht mehr doof. Stattdessen schauten sie schmachtend den wippenden Pferdeschwänzen unseren Schulkameradinnen nach und bewunderten vor allem Brigitte mit ihren großen Brüsten. Ich bemühte mich, es ihnen gleichzutun, aber die Wahrheit war: Ich konnte mit dem anderen Geschlecht nichts anfangen. Ich war doch hoffentlich kein Schwuler!

Denn mittlerweile hatte ich das Wort aufgeschnappt, weil die Älteren, da ich nun fast ein Mann war, wie Papa sagte, bei dem Thema in meiner Gegenwart nicht mehr zurückhielten. „Der August soll neulich wieder nachts in Frauenkleider durchs Dorf gelaufen sein“, erzählte Papa mal Mama und verdrehte die Augen. August wohnte in einer alten Hütte im Wald. Ein Außenseiter, der immer vor sich hin brabbelte, aber die Leute duldeten ihn, weil er im Krieg am Kopf verletzt worden war. „Sonst wäre der nicht so.“ Nur die Kinder, vor allem die Jungs, sollten bloß nicht in seine Nähe kommen. „Der ist nämlich schwul, mein Sohn“, sagte Papa in einem Tonfall, als ob er Erbrochenes im Mund hätte.

Also blieb ich bei Mädchen. Beate wurde meine Freundin. Es lief gut zwischen uns. Wir lachten über dieselben Witze, mochten dieselben Filme, genossen dasselbe Essen und hatten wenig Spaß an Sex. Für unsere Familien und Freunde war es nur eine Frage der Zeit, bis wir heiraten würden. Ich machte eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann im nahen gelegenen Freudenstadt und wurde danach von der Firma übernommen.

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Alle warteten auf den Antrag. Ich schlief schlechter, konnte mich kaum konzentrieren und es gelang mir immer weniger, meine zufriedene Fassade aufrechtzuerhalten. Als ich für meine Firma nach Freiburg fahren musste, verlor ich in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen und landete an einem Baum. In der Uniklinik kam ich wieder zu mir mit einer schweren Gehirnerschütterung, gebrochenen Rippen und einem Leberriss. Ich lag mehrere Wochen auf der Intensivstation. Als ich wieder aufstehen durfte, fühlte ich mich wie ein alter Mann. Ich wollte nur ein paar Schritte im Flur gehen, entschloss mich aber spontan, mit dem Aufzug in die Cafeteria zu fahren. Dort angekommen, wurde mir schwindelig. Ich kippte um – und spürte, wie mich jemand auffing und mir auf einen Stuhl half. Als ich wieder klarsehen konnte, blickte ich in braune Augen und ein Lächeln mitten im unrasierten Gesicht.

Wir redeten ewig miteinander und doch viel zu kurz. Walter wollte Walli genannt werden. „Weil das nicht so nach Sahnetorte, verstaubtem Anzug und Aktentasche klingt“, sagte er. Als ob ihn jemand damit in Verbindung bringen könnte. Walli hatte lange Haare, die er im Genick zusammenband, trug eine John-Lennon-Brille und – wie ich am nächsten Tag lernte, als er sich von mir verabschiedete – eine karierte Schlaghose und ein schwarzes Rüschenhemd. „Wir bleiben aber in Kontakt!“, sagte er. Und das blieben wir.

Ich trennte mich von Beate. „Ich fühle mich noch nicht reif für die Ehe“, erklärte ich. Das verstanden zwar weder sie noch meine Eltern, aber wie mein Vater sagte: „Der Junge muss sich wohl erst noch austoben.“

Walli erwähnte ich nicht. Auch nicht, als ich mir in Freiburg eine Stelle suchte und bei ihm einzog. Endlich entdeckte ich, wie schön Sex sein kann, wenn man ihn mit jemand erlebt, den man begehrt. Bei Schwulen-Partys und in Szene-Clubs küssten wir uns ungeniert. Ich fing an zu fotografieren. Ich verspürte eine unbändige Lust darauf, das Leben einzufangen, das ich leben wollte. Und es sah überhaupt nicht wie August, der Außenseiter aus meinem Heimatdorf, aus.

Aber den Ekel in meines Vaters Gesicht, den konnte ich nicht wegschieben. Ich verweigerte Walli meine Hand, wenn wir durch die Stadt schlenderten. Trafen wir meine Arbeitskollegen, war er nur „mein guter Freund“. Das führte im Laufe der Zeit zu heftigen Diskussionen zwischen uns. Walli lebte mitten im öffentlichen Aufbruch der Schwulen in den 1970er-Jahren. Ganz im Sinne des Kult-Films „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von Rosa von Praunheim. „Lass uns schwul sein!“, sagte er in der Öffentlichkeit immer öfters zu mir und tänzelte übertrieben hüftschwingend vor mir her. „Lass mich doch ich sein“, sagte ich.

1978 passierte es dann. Meine Eltern wollten mich überraschen. Ich sehe noch heute Vaters Abscheu und Mutters Traurigkeit vor mir, als ich die Wohnungstür öffnete und sie begriffen, was sich hinter meinem Rücken abspielten. Eine schwule Party. Papa packte Mama wortlos am Arm und zerrte sie die Treppe hinunter. Das ist jetzt sieben Jahre her. Seitdem habe ich, bis auf ein paar Telefonate mit meiner Mutter, keinen Kontakt mehr zu ihnen.

„Jetzt musst du dich wenigstens nicht mehr verstecken“, sagte Walli. Doch genau das tat ich. Ich meldete mich krank und verließ wochenlang die Wohnung nicht mehr. Ich ekelte mich vor mir selbst. Wenn Walli mich berühren wollte, stieß ich ihn weg. Schließlich trennten wir uns.

Da es seine Wohnung war, musste ich ausziehen. Nur wohin? Ich hatte nichts mehr – außer meinen Erinnerungen, eingefangen in meinen Bildern.

Wenn ich sie betrachtete, leuchtete in dem schwarzen Nichts in mir ganz zart die Freude am Fotografieren auf.

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Ich kündigte meine Stelle in Freiburg und flüchtete an das andere Ende von Deutschland, nach Hamburg. Mit meinen Bildern bewarb ich mich bei einem Verlag für schwule Zeitschriften und Bücher. „Sie haben Talent“, fand Verleger Otto Karsdorp. „Lassen Sie es uns miteinander versuchen.“ Ich stürzte mich mit meiner Kamera ins pralle schwule Leben, fing alles ein, was mir vor die Linse kam. Auch Björn, den ich bei einer Demo kennenlernte. Das, was Walli sich gewünscht hatte, hier schaffte ich es. Ich war ein öffentlicher Schwuler, der öffentlich seinen Freund küsste.  

Heute würde ich offen und fröhlich Wallis Ruf „Lass uns schwul sein!“ erwidern und Hand in Hand mit ihm über die Straße tänzeln. Denn wir sind ganz normale Menschen. Wir atmen, wir lachen, wir lieben. Genau daran möchte ich alle mit diesem Bildband erinnern, die in Zeiten von Aids Homosexuelle wie Aussätzige behandeln.

Und ich widme dieses Buch Walli, meiner ersten großen Liebe, der vor zwei Jahren an dieser tückischen Krankheit starb. Danke für alles!

Norbert M.

Hamburg, 1985

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